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dieser Seite werden bereits publizierte und nicht publizierte Beiträge,
die sich mit Theologie und Philosophie kritisch auseinandersetzen, in
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Gotthold Hasenhüttl, | Anmerkungen zur Äußerung des Papstes, die "weiße Fahne" zu hissen |
Gotthold Hasenhüttl, | Im Angesicht des Todes. Darf ein Christ über sein Leben entscheiden? |
Gotthold Hasenhüttl, | Sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche - ein Symptom? |
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© Gotthold Hasenhüttl
Anmerkungen zur Äußerung des Papstes,
„Si vis pacem, para bellum" – Wenn du Frieden willst, dann bereite den Krieg vor, so schrieb Flavius Vegetius Renatus (390-450), der Kriegstheoretiker (Epistola rei militaris), und meinte damit, dass nur ein Volk, das gut bewaffnet ist, auch im Frieden leben kann. Und er merkte an, dass der Hunger schlimmer ist als das Schwert. Unwillkürlich denkt man dabei an Stalins Zeiten, wo der Holodomor (Tötung durch Hunger) zur Vernichtung von 4 Millionen Ukrainern führte, die wehrlos dem Diktator ausgeliefert waren. Auch bereits Cicero (106-43 v. Chr.) machte aufmerksam, dass das Ziel des Krieges nicht die Erweiterung der Macht, sondern nur der Friede sein darf (Phil. VlI 6, 19): Wenn wir uns also des Friedens erfreuen wollen, müssen wir (gezwungenermaßen) Krieg führen. Glauben wir denn wirklich, dass Verhandlungen und Dialog mit einem „iniustus aggressor" zum Frieden führen könnten, außer durch die Unterwerfung mittels der „weißen Flagge"? Hätte vor dem Zweiten Weltkrieg die freie Welt anders reagiert und Hitler nicht Österreich und die Tschechoslowakei kampflos überlassen, hätte vielleicht dieser Weltkrieg mit den unzähligen Toten nie stattgefunden. Hätte 2014 Putin nicht freie Hand bei der Besetzung der Krim gehabt und hätte damals die Ukraine sich verteidigen können, wäre der jetzt tobende Krieg wohl nicht ausgebrochen. Und hätte die Ukraine 1994 bei ihrer Befreiung vom russischen Joch nicht freiwillig auf ihre Atomwaffen verzichtet, hätte sich Putin zweimal überlegt, die Ukraine zu überfallen. (Ähnlich war es, als die Militärjunta die Falklandinseln [Malwinen] überfielen. England hatte kein Militär auf der Inselgruppe stationiert. So hatte Argentinien ein leichtes Spiel, die Inseln zu besetzen. Vielen Menschen kostete die Wiedergewinnung der Inselgruppe das Leben.) Die Äußerung des Papstes Franziskus, die „weiße Flagge" zu hissen und anschließend Verhandlungen mit Putin zu führen, ist wohlwollend gemeint, aber nichts anderes als die Fantasie eines alten Mannes, der an der Realität vorbeilebt. Sie hat aber einen ernstzunehmenden Hintergrund. Mit dem Putschistengeneral Jorge Rafael Videla (1925-2013) hatte Franziskus eine enge Verbindung. Während Videla’s Diktatur (1976-1981) verschwanden mindestens 15.000 Menschen im Konzentrationslager. Er hat seine Taten nie bereut, auch nicht die Kinderverschleppungen und ihre Zwangsadoptionen. Seelenruhig hatte Franziskus in dieser Zeit als Provinzialoberer (1973-1979) der Jesuiten mit Videla die Messe gefeiert und war sich nicht zu schade, zwei seiner Jesuitenmitbrüder anzuzeigen, weil sie sozial tätig waren und zu Videla in Opposition standen (sie haben zwar überlebt und Franziskus auch vergeben). Putins Vorgehensweise mit seinen Kritikern entspricht dem der Diktatoren wie Stalin, Hitler, Videla etc. mit ihren Konzentrationslagern und einer Kriegsführung, die ihr Machtgebiet erweitern soll. Woher kommt die Affinität von Franziskus zu Videla und Putin? Es sind die Machtstrukturen, die sich in ähnlicher Weise in der katholischen Kirche aufgebaut haben. Franziskus ist Herrscher von Gottes Gnaden und bestimmt, was richtig und was falsch ist, wie er es selbst in seiner 2024 erschienenen Biographie „LEBEN. Meine Geschichte in der Geschichte" beschreibt: „Es stimmt, dass der Vatikan die letzte absolute Monarchie in Europa ist". Er zertritt den synodalen Weg, verweigert den Frauen die Gleichberechtigung wie den evangelischen Christen das gemeinsame Abendmahl, hält am Zölibatsgesetz fest (obwohl es eine lex iniusta und daher eine lex nulla ist) und schwächt die Botschaft Jesu durch ein seit 2018 mehrfach verlängertes Geheimabkommen mit China ab. Er steht damit jeder ernsthaften Reform der Kirche im Wege. Vielleicht hat Tertullian tatsächlich recht, der schon im 3. Jahrhundert sagte: „Numquam ecclesia reformabitur" ‒ Niemals wird sich die Kirche reformieren lassen. Es liegt daran, dass das oberste Gebot der Gehorsam ist, der stets repressiv ist und sich der eigenen Verantwortung entzieht. Darum sagte H. Arendt: Niemand hat das Recht zu gehorchen! Gilt nicht auch für den Papst Franziskus das geflügelte Wort, das bereits bei Hiob 13,5 in der Bibel angedeutet wurde: Si tacuisses, philosophus mansisses. Hättest du geschwiegen, o Papst, du wärest ein weiser Mann (ein Philosoph) geblieben! |
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© Gotthold Hasenhüttl
Im Angesicht des Todes. Darf ein Christ über sein Leben entscheiden?
Unsere Lebenserwartung nimmt ständig zu. Man spricht vom Altern der
Gesellschaft. Und wenn wir uns Statistiken ansehen, dann war z.B.
bei uns noch im 18. Jh. die durchschnittliche Lebenserwartung ca.
35 Jahre (allerdings ist auch die hohe Kindersterblichkeit zu berücksichtigen);
um 1900 betrug sie bereits 50 Jahre; 1980 waren es 70 und heute tendiert
sie auf die 80 zu. Als im Jahr 1774 der Philosoph E. Kant 50 Jahre wurde, betitelte ihn der
Rektor der Universität Königsberg bei der Festrede als „lieber
Greis“. Die Lebensetappen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts folgendermaßen
geschildert: „Zehn Jahre ein Kind, zwanzig Jahre ein Jüngling, dreißig
Jahre ein Mann, vierzig Jahre wohlgetan, fünfzig Jahre stille stahn, 60
Jahre gehet das Alter an, siebzig Jahre ein alter Greis, achtzig Jahre
nimmer weiß (= dement), Neunzig Jahr der Kinder Spott, hundert Jahr gnad
dir Gott“. Die heutige Altersstruktur der Gesellschaft ist ökonomisch nicht
unerheblich. Aber auch im Hinblick auf das Erkrankungspotential gibt es
ein Mehr an individuellem Leid, an körperlichem und geistigem Verfall.
Dies fordert mehr Empathiebereitschaft, mehr Solidarität mit den
Schwachen, den Gebrechlichen, kurz gesagt mit den ökonomisch
Unproduktiven, die auch unser persönliches Leben und die eigene
Entfaltung schwer belasten können.
Diktaturen tendieren in solcher Situation zu menschenunwürdigen Maßnahmen,
die z.B. in der NS-Zeit zur Ermordung sog. „unwerten menschlichen
Lebens“ führte. Aber auch Demokratien tun sich schwer mit der Wertschätzung
der anscheinend Schwachen in der Gesellschaft, die als belastend empfunden
werden und zum Nutzen der Gesellschaft nichts (bzw. nichts mehr)
beizutragen scheinen. Für den Christen ist jedes menschliche Leben lebenswert. Einen nicht mehr
lebenswerten Menschen gibt es nicht. So steht auch zu Recht im Grundgesetz
§ 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dies gilt für den
leistungsfähigen Menschen genauso wie für den Mörder und den geistig
wie körperlich Todkranken. Diese
Unantastbarkeit der Person bedeutet die
Unverfügbarkeit über den Anderen. Sie erweist sich im unbedingten
Lebensrecht des Mitmenschen. Sein Eigen- und Selbstbestimmungsrecht ist zu
wahren. 1989 erklärten die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz: „Der
Mensch darf den anderen Menschen nicht (absichtlich so) zum (bloßen) verfügbaren
Objekt machen, dass dieses nicht mehr zugleich Subjekt eigener
Entscheidungen sein kann … Sein Leben selbst und das Eintreten seines
Todes stehen nicht in der Verfügung anderer. Ohne solche prinzipielle
Grenze für alle Eingriffe wäre die Würde des Menschen preisgegeben“
(Gemeinsame Texte 17,65f.). Hätte sich dies in der Kirchengeschichte je
bewahrheitet, gäbe es seit 2000 Jahren keine Todesstrafe. Heißt dies jedoch auch, dass das eigene Leben wie der eigene Tod jeder
Selbstbestimmung entzogen ist? Sicher, wie sehr die „Selbstbestimmung“
verzerrt wird, zeigt die erschreckende Zahl von fast einer Million
Menschen (weltweit), die sich jährlich das Leben nehmen (also alle 40
Sekunden tötet sich ein Mensch selbst). In Deutschland finden jährlich
100.000 Selbsttötungsversuche statt, von denen 10.000 „gelingen“. Die
Gründe reichen von zu viel Stress bis
zu sozialen, physischen und psychischen Überforderungen. Die seit Jahren schwelende Debatte über die Sterbehilfe kreist um die
Frage, wie viel Selbstbestimmung dem Menschen eignet bzw. zusteht. Die
Sterbehilfe stellt einerseits ein theoretisches und andererseits ein
praktisches Problem dar, das auf Grund des Menschenbildes gesetzlich
geregelt ist. Im Bundestag wurde mehrfach die Abschaffung des § 216 StGB
„Tötung auf Verlangen“ gefordert; die Bestrafung von 6 Monaten bis 5
Jahren ist festgelegt. Zugleich betrifft diese Forderung auch die
Modifikation des § 323c „Unterlassene Hilfeleistung“. Sie wird mit
Geldstrafe oder bis 1 Jahr Haft bestraft. Die katholische Theologie sucht auf das Problem der Sterbehilfe Antworten.
Über diese Frage gibt es in der katholischen Kirche keine definitorische
Lehre, also keine absolut verbindliche Aussage. Zwei Fragen beinhaltet das Problem: 1. Darf ich als Christ mein Leben
selbstbestimmt beenden, oder muss
ich bis zum bitteren Ende die Natur walten lassen. Ist ausschließlich die
Natur Gottes Wille? Und 2. Darf ich als Christ in irgendeiner Form
Sterbehilfe leisten? Unter Sterbehilfe versteht man
alle Handlungen von der Hilfe
und Unterstützung im Sterben bis hin zur aktiven Tötung eines
Schwerkranken und Sterbenden. Das griechische Wort Euthanasie (= gutes
Sterben) wird in Deutschland vermieden, da es in der NS-Zeit auf
furchtbarste Weise missbraucht wurde. Zu unterscheiden ist: 1. Die passive Sterbehilfe Nach der herkömmlichen katholischen Moraltheologie muss niemand zu außerordentlichen
Mitteln greifen, um sein Leben zu erhalten. Zu diesem gehört bereits jede
Operation (z.B. auch eine Blinddarmentfernung) wie jeder Anschluss an
einen medizinischen Apparat. Es gilt: Der selbstbestimmte Mensch kann der
Natur ihren freien Lauf lassen. Grundsätzlich ist dies sittlich gut. Das
geht aus dem Grundsatz hervor, dass ich nicht notwendig immer die beste Möglichkeit
wählen muss. Dagegen steht die „tutioristische“ Moralvorstellung, bei
der der Mensch verpflichtet sei, sich immer für das Sicherere und Bessere
zu entscheiden. Die Kirche hat diese These zu Recht stets abgelehnt. Es
genügt, dass das Anzustrebende als gut erkannt wird. Die Überlistung der
Naturgegebenheiten, wie etwa die Beseitigung einer schweren Krankheit mit
Todesfolge, mit allen möglichen Mitteln ist nicht geboten. Ja, ganz im
Gegenteil. In manchen Perioden der Kirchengeschichte, wie etwa zur Zeit
Luthers, war man der Ansicht, dass Gott nicht nur den Tod, sondern auch
die Krankheit schickt. Wer sich gegen die Krankheit z.B. mit medizinischen
Mitteln wehrt, handelt gegen Gottes Willen: also keine künstliche
Lebensverlängerung. Gott ist Herr über Leben und Tod. Jesus hat offenbar
ganz anders gehandelt. Krankheit hat mit Gott und seinem Strafgericht
nichts zu tun. Krankheit ist zu heilen. Es ist der Auftrag jedes Christen,
auf Grund der Handlungsweise Jesu Christi. So gilt: Wenn ich die
Unterlassung einer (weiteren) Behandlung meiner Krankheit nicht wünsche,
ist dies absolut zu respektieren. Damit
ist aber heute nicht gemeint, dass man Gott schalten und walten lassen
sollte, sondern dass meine Selbstbestimmung unantastbar ist, obwohl sich
auch heute noch ein göttlicher Fatalismus einschleichen kann. Auch Ärzte müssen Respekt vor dem Gewissen der Patienten haben. So heißt
es in der Berufsordnung der Ärzte, die am 2.7.2011 beschlossen wurde (§
16): „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde
und unter Achtung ihres Willens beizustehen.“ Alles andere ist ein
falsch verstandener ärztlicher Paternalismus. Andererseits ist es auch
nicht vertretbar, dass ein Arzt gezwungen wird alle möglichen verfügbaren
technischen Möglichkeiten der Medizin auszuschöpfen, um so ein Leben zu
erhalten. Z.B. wie in Amerika, wo Ärzte unterstützt von Juristen und
einem Gericht, ein Mädchen (Karin Ann Quinlan) jahrelang gegen den Willen
der Verwandten und Eltern künstlich am Leben
hielten. Menschenwürdiges Sterben kann auch Verzicht auf eine
lebensverlängernde Behandlung bei einem unheilbaren Kranken bedeuten.
Entsprechend der Patientenverfügung
setzt dies sein Einverständnis voraus. Ist ein solches nicht
vorhanden, liegt es im Ermessen der Angehörigen, die abzuschätzen haben,
was seinem Willen entsprechen könnte. Selbstverständlich kann ich in
meiner Selbstbestimmung die Vollmacht, falls ich selbst nicht mehr
urteilsfähig sein sollte, auch delegieren. Der Wille des Patienten hat
absoluten Vorrang. Kein Arzt, kein Angehöriger und kein Staat darf
einen Kranken zur medizinisch-technischen Behandlung zwingen. Rechtlich
und ethisch ist es zulässig, dass man auf künstliche Ernährung,
Beatmung, Dialyse und auch auf Antibiotika u.a.m. verzichtet. An
diesem Grundsatz ändert auch die Überlegung nichts, welche Bedeutung
meine Entscheidung für meine Familie, meinen Beruf usw. hat, obwohl diese
nicht unberücksichtigt bleiben darf.
Das menschliche Subjekt ist nicht losgelöst von seinen
gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen. Der Mensch als ein
Beziehungswesen hat dies zu beachten und in seine Entscheidungen mit
einzubeziehen. Die letzte Entscheidung aber kann nur der konkrete,
einzelne Mensch fällen. 2. Die indirekte Sterbehilfe Nach katholischer Morallehre gibt es die „actio duplicis effectus“, die
Tat der doppelten Wirkung. Darunter fällt eine therapeutische Maßnahme
mit Todesfolge. Intendiert, beabsichtigt wird etwa das Stillen der
Schmerzen, um das Leid des Kranken abzumildern. Durch die hohe Dosierung
wird der Herzstillstand in Kauf genommen. Nach katholischer Ethik ist dies
human vertretbar und erlaubt, wenn nicht die Tötung, sondern die
Leidlinderung das Ziel des Handelns ist. Denn jeder Mensch hat Anspruch
auf ein menschenwürdiges Sterben. Eine Schmerzlinderung bedeutet
Lebenshilfe für das noch verbleibende Leben, wobei der Tod als
Nebenwirkung hingenommen wird. Wegen der heutigen unsicheren Rechtslage haben Ärzte oft eine panische
Angst Medikamente ja nicht zu hoch zu dosieren, damit sie rechtlich nicht
belangt werden können, wenn der Tod eintritt. So musste eine Bekannte von
mir über 10 Stunden furchtbarste Qualen erleiden, bis sie sterben konnte.
Die Sterbebegleiterin forderte den Arzt wiederholt auf, das Morphium stärker
zu dosieren, da dies auch dem Wunsch der Patientin entsprach. Da diese
Frau über Stunden hilflos die vor Schmerzen stöhnende Patientin ertragen
musste, leidet sie bis heute psychisch
schwer daran. Das kann weder der Wille Gottes, noch der eines Gesetzgebers
sein.
3. Selbsttötung und Beihilfe zum Suizid (unser nun
entscheidendes Hauptthema) Nach offizieller katholisch-kirchlicher Lehre ist jede Selbsttötung
ausgeschlossen. Aber kann die Todessehnsucht mancher Menschen berechtigt
sein und darf ich auch ein radikales Nein zu meinem Sein in der Welt
sprechen? Jeder Mensch ist, ohne gefragt zu werden, geboren worden. Andere
Menschen haben über meine Existenz oder Nichtexistenz entschieden. Die
Natur oder Gott kann man dafür nicht verantwortlich machen. Sobald ein
Mensch in die Existenz gesetzt ist, muss er in irgendeiner Form über sich
selbst entscheiden. Die Frage nun: Hat er auch die Freiheit, über sein
Leben zu entscheiden? Ist die Selbstbestimmung des Menschen wirklich nur
innerhalb der Grenzen seines vorgegebenen Lebens möglich? Muss man leben
und muss man leben wollen? Darf man Hand an sich legen? Ist man bezüglich
des Todes zur reinen Passivität verurteilt, oder darf man auch aktiv
seinen Tod herbeiführen? (vgl., G. Hasenhüttl, Glaube ohne Mythos II,
681ff). Ist nur der Krebs, der Herzinfarkt, der Dachziegel, die
Schneelawine usw. berechtigt, über meinen Tod zu entscheiden und nicht
ich selbst? Gibt es überhaupt keine Art „erlaubter“ Selbsttötung? In
der Tierwelt gibt es Selbsttötung.
Delphine in der Gefangenschaft, die für sie bedrückend und unerträglich
ist, hören bewusst auf zu atmen (Menschen können dies nicht) und
sterben. Im menschlichen Bereich gibt es eine „stellvertretende“ Selbsttötung,
indem ich vor mein Kind springe, damit es nicht von der tödlichen Kugel
getroffen wird. Der Hl. Pater Kolbe hat sich im KZ freiwillig für
einen Familienvater in die Todeszelle sperren lassen. Der Priester Camilo
Torres opferte sich als Guerillero. Für Jesus Christus gilt, dass er
freiwillig für die Menschen in den Tod ging. Ohne Zweifel sind diese
Verhaltensweisen verantwortete Selbsttötungen für Andere. Diese ist mit
der „Hingabe des eigenen Lebens“ für Andere identisch.
Wie aber ist eine Selbsttötung zu verstehen, die aus Angst geschieht? Wenn
ich im Gefängnis bin und weiß, dass ich unter der Folter den Namen
meines Freundes oder den Aufenthaltsort verraten werde, darf ich dann
nicht zuvor meinem Leben ein Ende setzen, sodass meine Freunde gerettet
werden? Oder denken wir z.B. an General Rommel, der vor die Wahl gestellt
wurde: entweder sich zu erschießen oder einen Prozess zu riskieren, in
den seine Frau und Kinder mit hineingezogen werden und die Hinrichtung fürchten
müssen. Und wie ist es, wenn ich „lebensmüde“ bin, aus welchen Gründen
auch immer, oder ich nicht mehr ein dahinsiechendes Leben führen möchte
und ich niemandem durch meinen Tod Schaden zufüge? Nach Ansicht vieler
heutiger katholischer Theologen ist die Selbsttötung nicht absolut
unmoralisch, weil auch das menschliche Leben, anders als seine Würde,
nicht unter jedem Aspekt absolut zu setzen ist. Gerade der Christ weiß,
dass die Liebe mehr ist als das physische Leben, und dass sie stärker als
der Tod ist. Der Katechismus der katholischen Kirche (1983) Nr. 2280 aber lehrt: „Wir dürfen
über das eigene Leben nicht verfügen, weil Gott der Eigentümer des
Lebens ist“. Die Selbsttötung wird in einem Atemzug mit der
Schwangerschaftsunterbrechung und der Beihilfe dazu genannt, die, auch
wenn sie aus Verzweiflung geschieht, die Exkommunikation (Ausschluss aus
der Glaubensgemeinschaft) nach sich zieht. Aber wenn Gott wirklich der
Eigentümer des Lebens ist, wie kann dann im selben Katechismus (Nr. 2266)
die Todesstrafe bejaht werden? Sie ist doch die Tötung eines Menschen gegen
seinen Willen. Menschen hat die Kirche wegen eines anderen Glaubens getötet.
Im Islam geschieht es heute fast täglich. Staaten (z.B. USA) tun es um
eines Staatszieles willen. Diese Verzweckung des konkreten Menschen wird
von den Hierarchen der Kirche als erlaubt hingestellt. Und wie ist es mit
dem Krieg, den Kreuzzügen usw.? Hier liegt eine ungeheure Doppelmoral
vor, die den konkreten Menschen seiner Selbstbestimmung beraubt, um
Machtinteressen zu verfolgen. Religionen und Staaten töten Menschen und
verfügen absolut und endgültig über
ein Menschenleben. Nur der Einzelne darf es nicht. Papst Benedikt XVI. (in
seinem Kompendium: Katechismus der Katholischen Kirche von 2005, Nr. 470)
bezeichnet die Selbsttötung
als einen schweren Verstoß gegen die Liebe zu Gott, zu sich selbst und zu
dem Nächsten. In unserer Fragestellung geht es darum, inwiefern ich über
mein Leben verfügen darf, wenn mein Weiterleben nur eine „Sterbeverlängerung“
ist. Z.B. ein unheilbarer Krebskranker hat noch ein sehr gut
funktionierendes Herz und kann deshalb nicht sterben. In diesem Fall steht
die freie Selbstbestimmung des einzelnen Menschen über der
Naturgegebenheit. Er kann in Verantwortung über sein Leben entscheiden.
(Wie z.B. S. Freud es tat, um sein Krebsleiden zu beenden.) Sicher soll
bei einer solchen Entscheidung das Wirken der Hospizbewegung in Betracht
gezogen werden sowie die Möglichkeit der Palliativmedizin, die nicht nur
körperlich schmerzlindernd für den Kranken wirkt, sondern ihn ganz
besonders in seiner psychisch-seelischen Not annimmt und Hilfe anbietet,
sodass für sein Sterben ein humanes Umfeld geschaffen wird. „Es darf
aber nicht verhindert werden, dass der Sterbende auch am Ende seines
Lebens selbst über sich bestimmt“ (Sterbebegleitung statt aktiver
Sterbehilfe, Hg. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2003,
17). Es ist sicher möglich, dass ein Mensch das Leid des Sterbevorganges
als sinnvoll erkennt (vgl. Jesus am Kreuz) und seinen eigenen Tod bewusst
erleben möchte (wie es bei meinem Bruder der Fall war). Das Lebensrecht
bis zum Schluss darf ihm niemand nehmen. Wer gar eine Kostenrechnung
aufstellt, denkt zutiefst unmenschlich. Aber es ist möglich, dass jemand
seinen weiteren Sterbevorgang als absurd und sinnlos ansieht, da keine
Besserung möglich ist. Ihm darf die Möglichkeit nicht verweigert werden
in Würde, auch mit Beihilfe zu sterben. Gerade als Christ kann er mit
Dankbarkeit für sein Leben sprechen: Jetzt, empfehle ich in Deine Hände
meinen Geist. Nicht nur physisches Leid (z.B. jahrelange Bettlägerigkeit),
sondern auch das psychische Leid (ich will nicht in der Fremde, im Hospiz
oder Spital, sondern zu Hause sterben) kann ein Grund sein, nach
reiflicher Überlegung, sein Leben zu beenden. Dies gilt auch, wenn mein physischer
Tod nicht unmittelbar bevorsteht. Das heißt aber nicht: Ich habe genug
vom Leben, sondern: Ich habe genug gelebt. Eindrucksvoll schildert dies
z.B. der Film der „Elephantenmensch“. Schrecklich verstümmelt und
verunstaltet wird er geboren und macht
das Elend als Objekt eines Schaustellers durch. Als er von einem Arzt
Gutes erfährt und glücklich wird, beschließt er voll Dankbarkeit sein
Leben zu beenden, im Bewusstsein, dass Gott sein Hirt ist und ihm nichts
mangeln wird. Die personale Freiheit steht über den kausalen Naturvorgängen.
So ist es möglich, dass die Selbsttötung der Liebe zu sich selbst und
zum Nächsten nicht widerspricht. Ich kannte eine krebskranke Frau, die
wusste, dass sie nur noch einige Wochen zu leben hatte und die um ein
Mittel bat, um zu Hause in Ruhe einschlafen zu dürfen. Unbarmherzig wurde
sie ins Hospiz geschafft, wo sie völlig unglücklich nach 3 Wochen starb.
Muss man einen solchen Schmerz noch bereiten? Das hat nichts mit willkürlicher
Verfügung über den Tod zu tun, sondern mit der Entsprechung des Willens
eines Sterbenden, die ihm gewährt werden müsste. Das Argument, das immer
wieder kirchlicherseits ins Feld geführt wird, ist: Gott habe das Leben
geschenkt, es sei daher unverfügbar, nur Gott sei Herr über Leben und
Tod. Wie angeführt, durchbricht die Hierarchie selbst diese Regel heute
bei der Todesstrafe und in der Vergangenheit z.B. bei der
Ketzerverbrennung; so verurteilt sie sich selbst. Das ganze Argument
beruht darauf, dass die Natur der Wille Gottes sei. Ist es der Wille
Gottes, dass ein menschliches Leben auf ein rein biologisch-vegetatives
Leben reduziert wird? Es ist ein Naturfetischismus. Naturgegebenheiten,
Katastrophen in der Welt und im eigenen Leben sind nicht mit dem Willen
Gottes identisch. Gott ist nicht die Ursache für Licht und Finsternis in
unserem Dasein. Der Philosoph Spinoza, ein Pantheist, lehrte: Deus sive
natura, d.h. Gott ist gleichzusetzen mit der Natur. Uns ist es gegeben,
die Natur zu bewahren, aber auch zu verändern, wo dies für ein
sinnvolles menschliches Leben dienlich ist. Durch das Argument, dass die
„Natur“ den Willen Gottes ausdrückt, verbietet die kirchliche
Hierarchie Geburtenregelung, Homosexualität u.a.m. Jesus Christus hatte
stets das geglückte Leben des konkreten Menschen vor Augen und kein
(Natur-)Gesetz. Die kirchliche Institution beachtet nicht, dass zuerst die
einmalige Person in ihrer Freiheit zu sehen ist, die nur durch die
Freiheit des Anderen, des Nächsten, begrenzt werden darf. Erst in zweiter
Linie können natürliche Vorgaben eine Rolle spielen und ganz zuletzt die
rechtlichen Regelungen, die den Menschen zu dienen haben. Die Hierarchen
stellen diese Ordnung auf den Kopf: Nur Gesetze zählen, auch wenn der
konkrete Mensch durch sie zugrunde geht. Wenn das Leben als Gottesgeschenk
gesehen wird, dann schließt jedes Geschenk die Anerkennung der Freiheit
des Anderen ein. Sicher über Geschenke soll man nicht ohne Rücksicht,
nach Belieben verfügen; einen Ehering wird man nicht achtlos wegwerfen
und Blumen eines lieben Menschen nicht in den Müll stecken, aber über
all das kann man in Verantwortung entscheiden. So ist uns unser Leben (von
Gott) in unsere Hände gelegt. Ich darf nicht willkürlich, nach Belieben
darüber verfügen, aber es ist auch nicht absolut unverfügbar. Rückgabe
des Lebens im Vertrauen auf die Liebe (Gottes) ist möglich. Sicher bejaht grundsätzlich der Christ sein Leben, wie jedes Leben, aber
das heißt nicht, dass es ein letztes, absolutes Gut ist. Wir HABEN ein
Leben, es ist ein Geschenk, aber wir SIND es nicht. Nach dem
Johannesevangelium ist nur Jesus das Leben, aber auch dies ist nicht
einfach identisch mit dem gegenständlichen Vorhandensein in dieser Welt.
Niemand darf mir mein Habe gewaltsam entreißen, so auch nicht mein Leben,
das ich habe, aber nicht bin. Ich bin jedoch Person. Sie wird dadurch
konstituiert, dass sie lieben kann. Die Liebe allein ist ein höherer Wert
als das Leben, denn in der Liebe leben wir weiter, auch wenn all unser Hab
und Gut in Staub versinkt und zerfällt. Der Liebende kann alle Geschenke
hintanstellen und in freier Entscheidung darauf verzichten, ob es ihm
leicht fällt oder nicht. Die lebendige Liebe durchbricht alle Gegenständlichkeit.
Sie ist Freiheit auch zum Tod, aber nicht Freiheit vom Tod. Ferner: Leben
als Geschenk Gottes heißt auch nicht, dass Gott die Ursache, der kausale
Grund des Lebens ist – die Ursachen sind uns „innerweltlich“
weitgehend bekannt – sondern es heißt, dass wir dankbar sind für unser
Leben. Wir dürfen es auch wieder in seine liebenden Hände legen. Die
Behauptung, dass ein langsames Siechtum Gottes Wille sei, verrät ein
archaisch-mythisches Denken, das Gottes Liebe zur Unkenntlichkeit
karikiert. Die Verantwortung für das Leben liegt in unseren Händen!
Sicher kann die Verantwortung missbraucht werden, es kann Druck auf Kranke
wie auf Schwangere ausgeübt werden; dies aber ist nur Zeichen der Möglichkeit
der Pervertierung. Abusus non tollit usum!, der Missbrauch und seine Möglichkeit
darf den Gebrauch nicht verbieten. Wenn wir einen Blick auf die Bibel werfen, können wir kaum ein Argument
gegen die Selbsttötung finden. Da ist der erste bekannte Selbstmordattentäter:
Samson. Er wurde von den Philistern gefangen genommen und eingekerkert. In
dem Haus über dem Gefängnis versammelten sich 3000 Männer und Frauen.
Samson bittet Gott nochmals um Kraft, um das Haus zum Einsturz zu bringen.
Er erhält diese, umfasst die Mittelsäule
des Hauses und spricht: Ich will mit den Philistern sterben. „Da
fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war, sodass
es mehr Tote waren, die er durch seinen Tod tötete, als die er zu seinen
Lebezeiten getötet hatte“ (Richter 16,27-30). Abimelech, ein Richter
Israels, lässt sich, schwer verletzt, von seinen Waffenträger töten, um
der Schmach zu entgehen (Richter 9,54). Der erste König Israels, Saul,
von seinen Feinden besiegt, stürzt sich ins eigene Schwert (1Sam 31,3-4).
Er wird in der Bibel nicht getadelt. In der Makkabäerzeit (2Makk
14,37.41-42) will ein Ältester von Jerusalem, Rasi, sich selbst töten,
denn, so heißt es, „er wollte lieber ehrenhaft sterben als den
Gottlosen in die Hände zu fallen“. Im NT wird allerdings die
Verzweiflungstat des Judas als tief tragisch dargestellt und auch
verurteilt, weil er an die Vergebungsbereitschaft Jesu nicht mehr geglaubt
hat. Nicht seine Selbsttötung ist das Verwerfliche, sondern sein Verrat
an und die Zurückweisung der Liebe Jesu Christi. Viele Kirchenväter,
Chrysostomus, Eusebius und Hieronymus loben ausdrücklich die Christinnen,
die als Sklavinnen in Bordelle verschleppt, und um der Vergewaltigung zu
entgehen, sich selbst töteten. Aus der Bibel lässt sich daher wohl kein
Verbot der Selbsttötung erschließen. Wieweit darf ich nun als Christ auch Beihilfe zur
Selbsttötung leisten, wenn ich darum gebeten werde? Als in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts der Film „Die Sünderin“
gezeigt wurde, liefen die kirchlichen Behörden dagegen Sturm. In diesem
Film reicht die Frau ihrem geliebten erblindeten Lebenspartner das
Veronal, bevor die tödlichen Tumorschmerzen beginnen. Ein typischer Fall
von Beihilfe zur Selbsttötung. In der Stellungnahme der Ärzteschaft in
Deutschland (Gemeinsamer Text 17, S.61) jedoch heißt es: „Die
Bereitstellung von Mitteln, die den Suizid ermöglichen oder die direkte
Beteiligung an derartigen Handlungen sind mit dem ärztlichen Ethos
unvereinbar“ und weiter: „Ärztinnen und Ärzte dürfen das Leben der
oder des Sterbenden nicht aktiv verkürzen“.
Aber: ist es besser irgendjemanden, oder gar eine Organisation zu
beauftragen, ein lebensbeendendes Mittel zu beschaffen als einen Arzt?
Oder ist es vielleicht ein
„menschenwürdigeres“ Sterben, wenn ich mich, da mir kein Arzt hilft,
vor den Zug werfe, von einer Brücke springe oder mir teuer am
Schwarzmarkt eine Pistole besorge, wie es auch ein Bekannter von mir tat?
Nicht ganz zu Unrecht besteht heute die Forderung nach gesetzlicher
Aufhebung des Verbotes eines ärztlich assistierten Todes, der in
Selbstbestimmung geschieht. Beim assistierten Suizid ist das entscheidende
Kriterium die sog. „Tatherrschaft“. Der Kranke muss die Tat selbst
ausführen. Die Unterstützung allein (z.B. durch Beibringung des Gifts)
wird in der Regel bei uns nicht mehr geahndet; sie bleibt straffrei. Wenn
ich jedoch dem Sterben beiwohne, ohne einzugreifen, kann das den
Strafbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) darstellen.
Aber nach klarer Erkenntnis eines irreversiblen Sterbeprozesses und nach
deutlicher Aufklärung über alternative Möglichkeiten, ist der deutliche
Todeswunsch des Kranken zu respektieren. Wenn er den eindeutigen Wunsch
nach Hilfe äußert, ist ihm diese nicht zu verwehren, da die personale,
verantwortete Entscheidung, auch im Fall der Selbsttötung, höchste
Priorität hat. Auch wenn ein Arzt oder Angehöriger in bewusster
Verantwortung und Entsprechung des freien Willens des Kranken ein tödliches
Schlafmittel reicht, so nimmt er dadurch nicht der Person die Freiheit,
denn sie kann darauf auch verneinend reagieren. Der Kranke bleibt
handelndes Subjekt und wird nicht zum reinen Objekt, über das verfügt
wird. Auch ein Christ kann aktiv sterben wollen, ob die Situation physisch
oder psychisch ausweglos erscheint, ist nicht entscheidend, und um
Beihilfe bitten. Paulus schreibt: Alles gehört euch, Leben und Tod (1Kor
3,22). Wir dürfen in Verantwortung über unser Leben und unseren Tod verfügen
und können die Verantwortung nicht abschieben. Wenn ich keine Hoffnung
mehr haben kann auf ein humanes Weiterleben, muss ich die Möglichkeit
haben sterben und dabei die
Hilfe eines Anderen in Anspruch nehmen zu dürfen. Die Gesetzgebung zur Frage der aktiven Sterbehilfe ist in den verschiedenen
Ländern sehr unterschiedlich. Während in Deutschland große
Vorbehalte, auch von der Ärzteschaft, gegen sie besteht, ist z.B.
in den Niederlanden und Belgien seit 2002 den Ärzten erlaubt, unter
Einhaltung festgelegter Sorgfaltspflicht, aktive Sterbehilfe zu leisten.
Es muss nach dem heutigen Stand der Wissenschaft sicher sein, dass der
Zustand des Leidens des Patienten unumkehrbar ist. Ein zweiter Arzt muss
hinzugezogen werden. 2008 wurde auch in Luxemburg die aktive Sterbehilfe
durch das Parlament freigegeben. Im US-Bundesstaat Oregon ist seit 1997
die ärztliche Unterstützung bei der Selbsttötung erlaubt. Die
Gründe können der „Verlust der Autonomie“ sein, oder ganz
allgemein: „Der Verlust der Fähigkeit etwas zu unternehmen, was das
Leben lebenswert macht“. In Europa stellt die Schweiz einen besonderen Fall dar, sodass sie als
„Sterbeparadies“ bezeichnet wird und vor allem aus Deutschland einen
regen Sterbetourismus bewirkt. Der Paragraph der „unterlassenen
Hilfeleistung“ greift dort nicht. Auch ist nach dem Betäubungsmittelgesetz
die ärztliche Verordnung des Pentobarbital in tödlicher Dosis erlaubt.
Die Schweizer Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) erkennt
allerdings eine solche Verordnung nicht als „Teil der ärztlichen Tätigkeit“
an. Allgemein ist die Beihilfe zur Selbsttötung nicht strafbar, wenn kein
rein egoistisches Motiv (das ist entscheidend!) vorliegt. So konnten sich,
angeblich nicht gewinnorientierte Organisationen etablieren, die die
Beihilfe zur Selbsttötung leisten. Seit 1982 ist es die Exit-Organisation
und seit 1998 der Verein Dignitas. Sie geben an für ein „humanes
Sterben“ zu stehen. Der „Freitodbegleiter“ ist angehalten nur dann
dem Todeswunsch zu entsprechen, wenn er aus einem „schweren,
krankheitsbedingten Leiden heraus“ entwickelt wurde. Der Sterbewillige
muss uneingeschränkt urteilsfähig sein. Sein Recht auf selbstbestimmtes
Sterben ist zu wahren. Auch soll auf die Palliativmedizin wie auf die
Psychotherapie ausschöpfend hingewiesen werden. Bei psychisch gestörten
Kranken und Dementen, die nicht mehr urteilsfähig sind,
soll die Patientenverfügung maßgebend sein. Schätzungsweise
werden von den beiden Organisationen jährlich 400 mit dem entsprechenden
Medikament, dem von der Firma Bayer entwickelten Natrium-Pentobarbital in
der Dosis von 15 Gramm, versorgt. Nach dem Einschlafen wird der Tod
(schmerzlos) durch Ersticken und Herzstillstand herbeigeführt. Da diese Vereine nicht gewinnorientiert sein dürfen, wird eine
Spendenpauschale von 500 SF fällig. Da z.B. Exit 60.000 Mitglieder hat
(H. Küng ist einer davon), ist eine Summe von 30 Millionen SF (ca. 25
Millionen Euro) schnell erreicht. Dazu kommt, dass der Sterbewillige für
die Assistenz 8000 SF zahlen muss. Es scheint mir nicht sehr glaubwürdig
zu sein, dass kein kommerzielles Gewinninteresse dahinter steht. Eine
Assistenz sollte helfen und dienen und nicht verdienen. Um dies nicht zu fördern,
wäre eine andere Gesetzgebung in Deutschland sinnvoll, die den
Suizidtourismus unterbindet. Gewinnorientierte Organisationen sind
unethisch. Der Todeswunsch eines Menschen darf nie ein Geschäft sein. So
wäre es denkbar, dass in Deutschland Selbsttötung mit ärztlicher Hilfe
erlaubt werden könnte, wenn vorher ein obligatorisches Beratungsgespräch
(ähnlich wie bei der Schwangerschaftsberatung) stattfindet, das
ergebnisoffen und neutral (nicht ideologisch belastet) ist. 4. Die direkte Tötung auf Verlangen Hier wird zwar die vorausgehende Willenserklärung berücksichtigt, der
Kranke selbst aber ist beim Akt rein passiv. Seine eigene Entscheidung ist
daher in diesem Augenblick aufgehoben. Nun erteilen wir dem tödlich
verletzten Tier den Gnadenschuss. Gibt es für Menschen keine Gnade? Es
ist jedoch zu bedenken, dass es sich beim Menschen, der selbstbestimmt
handelt, um eine Person handelt. Bei der Fremdtötung geht es hingegen um
eine Art der Entsubjektivierung. Das fremdbestimmte Sterben bedeutet die
Aufhebung der personalen Freiheit (die im Fall des Tieres wohl nicht
zutrifft). Ethisch ist es daher kein Suizid, sondern eine Fremdtötung,
wenn auch mit vorhergehendem Einverständnis. Die Tötung
eines anderen Menschen auch mit seiner Zustimmung muss zum Schutz des
Lebens gesetzeswidrig bleiben. In besonderen Fällen jedoch könnte sie
straffrei sein, wenn bestimmte Kriterien beachtet werden. Z.B. bei
Folterung, die unerträglich wird, bei einem Phosphorbombardement wie im
2. Weltkrieg in Hamburg, wo die Betroffenen entweder langsam
verbrannten oder in der Alster ertranken. Ähnliches gilt für heutige
Kriegsführungsweisen. Wenn unter ganz besonderen Umständen die Bitte um
Tötung geäußert wird, und objektiv keine andere Möglichkeit besteht,
als auf diese Weise ein qualvolles Sterben zu beenden, z.B. wenn der
Mensch keinen Finger mehr rühren kann,
ist m.E. Straffreiheit geboten. Grundsätzlich jedoch ist eine direkte Tötung auf Verlangen unethisch und
nicht möglich, weil das konkrete Subjekt im Akt der Tötung fremdbestimmt
ist und aus seiner Verantwortung entlassen wird. Der Christ jedoch muss
sein eigenes Leben und Sterben verantworten und selbst bestimmen können.
Die Giftspritze von einem Arzt zur Tötung gesetzt, ist keine vom
konkreten betroffenen Menschen verantwortete Tat. Psychische und physische
Hilfe hingegen beim selbstbewussten Sterben angesichts des Todes ist die
Pflicht christlicher Nächstenliebe. Eine Tötung durch einen anderen
Menschen bleibt jedoch in der Regel ausgeschlossen, weil dadurch der
Sterbende zu einem Objekt degradiert wird und seine Würde als Person
verliert. So ist es richtig zu sagen: Ich möchte nicht durch die Hand
eines Arztes sterben, aber doch in Begleitung eines Arztes meines
Vertrauens, der mir hilft, mich vom Leiden zu befreien. So könnte ich
dann auch an der Hand eines lieben Menschen sterben. Nur
die liebende Beziehung trägt über den Tod hinaus. Sie ist mehr als alle
Lebensenergie. Wer in der Liebe stirbt, hat nicht nur ein sinnvolles Leben
gehabt, sondern er lebt in der Liebe weiter. |
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© Gotthold Hasenhüttl
Sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche - ein Symptom?
1.
Der Skandal Im Jahr der Priester,
2010, wurden die Missbrauchsfälle durch kirchliche Hierarchen in einem
Ausmaß, auf Grund der Presseberichte, bekannt, die für viele
schockierend waren. Klaus Mertes S.J., der Rektor des Berliner
Canisiuskollegs trat an die Öffentlichkeit; er warf gleichsam einen
Schneeball und die Lawine rollte zu Tal. Überall auf der Welt, nicht nur
in Deutschland, vor allem auch in den USA und Irland, zeigte sich wie
viele Fälle seit Jahren vertuscht, verheimlicht und oft auch geleugnet
wurden. Für Papst Benedikt XVI.
war diese Offenlegung das Werk des Teufels, der das strahlende Bild der zölibatären
Priester verdunkeln wollte. Schon lange davor hatte er vor dem Wirken des
Teufels gewarnt und für jede Diözese gefordert, Exorzisten zu bestellen,
um den Teufel wirksam zu bekämpfen. Trotzdem machte er den Eindruck, als
sei er überrascht und erschüttert über die vielen bekanntgewordenen Fälle.
In Wirklichkeit war das ganze Ausmaß des Missbrauchs längst dem Vatikan
gemeldet worden. Um dies zu verheimlichen wurde ein Vertuschungssystem in
Gang gesetzt, das im feierlichen Schreiben des Präfekten der
Glaubenskongregation, Kardinal Ratzinger (1981-2005): „Epistula de
delictis gravioribus“ vom 18.5.2001 seinen Höhepunkt erreichte. Alle
Missbrauchsfälle wurden unter das „Secretum Pontificum“ gestellt.
Sollte ein Bischof diese Schweigepflicht verletzen, wurden ihm schwere
Kirchenstrafen angedroht. Jede Erklärung einer Schuld oder wenigsten
Mitschuld von Seiten des Papstes blieb aus, ja zu Ostern 2010 verkündete
der Kardinaldekan „urbi et orbi“ die päpstliche Unschuld und
behauptete, dass alles nur eine Hetzkampagne gegen die Kirche sei. Wie eine Verhöhnung der
Missbrauchsopfer muss es wirken, wenn nun Johannes Paul II., der Freund
des Kinderschänders Padre Marcial Maciel, am 1.5.2011 selig gesprochen
werden soll. Johannes Paul II. deckte zeitlebens Maciel, den Gründer der
„Legionäre Christi“, der nicht nur mit mindesten zwei
verschiedenen Frauen Kinder hatte, sondern auch Jugendliche schwer
missbrauchte (nach dem Akt der Päderastie absolvierte er seine Opfer
[absolutio complicis]; es gilt als eines der schwersten Vergehen des
Priesters). Johannes Paul II. umarmte in Mexiko liebevoll Maciel, während
er dem knieenden Ernesto Cardenal in Nicaragua mit dem Finger drohte, der
für Gerechtigkeit eintrat. Die Gründe dieses Verhaltens lagen darin,
dass Maciel und seine Kampforganisation mit aller Macht gegen die Kirche
der Armen und die Befreiungstheologie agierte und außerdem finanziell die
Reisen dieses Papstes unterstützte. Benedikt XVI. braucht diese
Seligsprechung, um sein unseliges Wirken als Präfekt der
Glaubenskongregation zu salvieren. Während
Johannes Paul II. den klerikalen Missbrauch vertuschte (mir sind
keine pädophilen Priester bekannt, die suspendiert wurden), hinterließ
dieser Papst zusammen mit Ratzinger mehr als 160 gemaßregelte Bischöfe,
Priester, Ordensleute und Professoren, denen er die Lehrerlaubnis entzog,
die er suspendierte oder gar exkommunizierte, da sie wagten am System
selbst Kritik zu üben und sich auf die Seite der Unterdrückten stellten
und so den „unabgegoltenen Rest“ in der Kirche einklagten. Nun machen die
Leitlinien zum Umgang mit dem sexuellen Missbrauch (31.8.2010) und die
Rahmenordnung zur Prävention (23.9.2010) der deutschen Bischofskonferenz
auf den ersten Blick einen guten Eindruck, wie etwa der Hinweis, dass die
beste Prävention gegen den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen die
Erziehung zu eigenverantwortlichen, glaubens- und gemeinschaftsfähigen
Persönlichkeiten ist. Ist aber das kirchliche System überhaupt dazu
geeignet, solche Persönlichkeiten zu entwickeln und ist nicht die
absolute Gehorsamspflicht, die das katholische Kirchensystem den Personen
abverlangt, das wahre Hindernis der Persönlichkeitsbildung? Wenn
in den Leitlinien von schwerem Schaden gesprochen wird, den die Täter der
„Glaubwürdigkeit der Kirche“ zufügen, so ist darin primär die Sorge
um das Ansehen der kirchlich-hierarchischen Institution zu erkennen. Die
gleiche Klage liest man im päpstlichen Hirtenbrief an die Katholiken in
Irland (19.3.2010), dass nämlich durch sexuellen Missbrauch von
kirchlichen Würdenträgern der „Respekt vor der Kirche“ verlustig
gegangen ist und die Institution Kirche „beschädigt“ wurde. Sie haben
gegen „unsere geliebte Kirche“ gesündigt. Zwei entscheidende
Punkte sind in den Leitlinien zu finden, die der Vertuschungspraxis wie eh
und je Vorschub leisten werden. 1. ist es das
Verschweigen, die Nicht-Bekanntgabe des Missbrauchs, wenn es das „mutmaßliche
Opfer“ „ausdrücklich wünscht“. Wie Wünsche von Minderjährigen
durch Bestechung der Eltern manipuliert werden können, ist allgemein
bekannt. Geld kann vieles bewirken! Noch immer ist mir der Fernsehauftritt
eines nun erwachsenen Opfers vor Augen, dem die Diözese Magdeburg 25.000
Euro angeboten hatte, wenn er auf diese Öffentlichkeit verzichtet. 2. hat der Bischof einen
Missbrauch durch einen Kleriker den Apostolischen Stuhl zu melden, „der
darüber entscheidet, wie weiter vorzugehen ist“ (wie es der Art. 16 der
neuen „Normae de gravioribus delictis“ vom 21.5.2010 wiederum
vorschreibt). Damit ist eine allgemeine staatliche Anzeigepflicht eo ipso
aufgehoben, wie auch Bischof Ackermann, der Missbrauchsbeauftragte, klar
erklärte. Wo bleibt da, die in den
Dokumenten vielbeschworene „Kultur der Wertschätzung, des Respekts und
der Achtsamkeit“ gegenüber Kindern und Jugendlichen, den (ehemaligen)
Opfern? So wie die kirchlichen Äußerungen angelegt sind, wird man den
Skandal aussitzen wollen und dann wieder zur Tagesordnung übergehen.
Daran ändert auch die Hotline nichts, die für die Missbrauchsopfer
eingerichtet wurde. Ich habe von vielen Opfern Rückmeldungen erhalten,
die zutiefst schockiert waren, da ihnen erklärt wurde, sie müssten ihre
Aussagen beweisen und überdies seien die Taten verjährt. Einer sagte
mir, dass er sich nun zum zweiten Mal als Opfer fühle und tief verletzt
wurde. Was nützen alle Papiere und Beteuerungen, wenn nicht den Opfern
der sexuellen Gewalt in der Kirche schnell geholfen wird? In seinem
Irland-Schreiben empfiehlt der Papst als Wiedergutmachung „intensives
Gebet“. Ich habe nichts gegen ein Gebet, aber dies als Widergutmachung
in den Vordergrund zu stellen, ist unglaublich, unfassbar, ja eine
Frechheit. Eine echte Wiedergutmachung ist wohl kaum möglich, aber
wirklich alles für die Opfer zu tun, was ihnen hilft, wäre die Pflicht.
Man muss überdies erkennen, dass alles, was Papst und Bischöfe tun, nur
unter dem Druck der Öffentlichkeit geschieht. Der Tenor aller Aussagen
und Handlungen bleibt, dass die Würde der Institution unantastbar ist,
aber nicht die des konkreten Menschen. Der Verweis darauf, dass es auch in
anderen Institutionen „schwarze Schafe“ gibt, gilt aus zwei Gründen
nicht. Es wird immer innerhalb und außerhalb der Kirche Missbrauchsfälle
geben, aber das erklärt nicht, warum gerade katholische Kleriker in
besonders großer Zahl solche verursachen. Und dann versteht sich gerade
die Hierarchie der Kirche als Hüterin der Moral, der die
Vertuschungspraxis gerade in dem sensiblen Bereich der Sexualität
entgegensteht. Täter werden solange es geht geschützt und Opfer daher
missachtet. Selbst ein Opfer-Fond, den österreichische Bischöfe
eingerichtet haben, schieben die deutschen auf die lange Bank, bzw. auf
den „runden Tisch“. 2.
Die „Unschuld“ des Systems Man
kann sich zu Recht auch fragen, ob nicht manche Täter selbst Opfer eines
Systems geworden sind, das als gut und gottgewollt gilt und in dem nur der
einzelne Mensch schwach und sündig ist. So hat Kardinal Urs von
Balthasar, der bekannte Theologe, in seiner männlichen Phantasie die
Kirche als „casta meretrix“, als „keusche Hure“ bezeichnet. Das
erste ist die Institution, das zweite der einzelne Sünder. Ist die
Institution wirklich gut und heilig? So erklärte Papst Gregor XVI., 1832,
in seiner Enzyklika „Mirari vos“ (Nr. 6, D 2730) – dessen Geist
Benedikt XVI. weiterhin vertritt: „Es ist völlig absurd und in höchstem
Maße eine Verleumdung zu sagen, die Kirche bedürfe einer … Erneuerung
… als ob man glauben könne, die Kirche wäre Fehlern, Unwissenheit oder
irgend einer anderen menschlichen Unvollkommenheit ausgesetzt“. Mit der
Kirche ist natürlich die hierarchische Institution gemeint. In diesem
Sinne zitierte bereits Pascal die Aussage Tertullians (2. Jh.) „numquam
Ecclesia reformabitur“ – die Kirche als Institution wird sich nie
wirklich reformieren und verändern (ist dann der Weg zu Dantes ‚Göttlicher
Komödie‘ noch weit, wenn es heißt „Lasziate ogni speranza, voi ch‘
entrate“!). Solange mit der Aussage des 2. Vatikanischen Konzils
(LG Kap. 8) nicht wirklich ernst gemacht wird und die hierarchische
Institution sich als ein menschliches Element in der Kirche begreift, das
verändert werden kann und muss, wird sich die Hierarchie als göttlich
verstehen und jeden Veränderungswillen unterdrücken. Das bedeutet, dass
sich die kirchliche Hierarchie als Institution über den konkreten
Menschen stellt. Und genau dies ist der Frohen Botschaft Jesu Christi
diametral entgegengesetzt. Ihm ging es immer nur um den konkreten
Menschen, der unterdrückt, seelisch verletzt und körperlich krank ist.
Nie hat er einen Menschen dem Gesetz untergeordnet. Dies zeigt er bei den
Krankenheilungen am Sabbat – im damaligen Verständnis das höchste göttliche
Gebot – den er außer Kraft setzt, wenn der konkrete Mensch ihm
untergeordnet werden sollte. Dies zeigt sich ebenfalls bei den
Mahlgemeinschaften, in denen er die Trennung zwischen Sünder und
Gerechten aufhebt. Denken wir an die Sünderin beim Pharisäermahl oder
sein Essen „mit Zöllnern und Sündern“ usw.! Nie wird ein Gesetz oder
eine Institution über die Würde des einzelnen Menschen gestellt. Für
Jesus ist diese in Wort und Tat unantastbar. Solange sich die Hierarchie
nicht an der Botschaft Jesu orientiert, die niemanden ausschließt, die
jeden konkreten Menschen mit seinen Sorgen ernst nimmt und in Freiheit
setzt, wird sie sich niemals relativieren, sondern immer absolut setzen.
Obwohl J. Ratzinger 1991 eine wichtige Warnung ausgesprochen hat:
„Kirchliche Institutionen … drohen sich als wesentlich auszugeben und
sie verstellen so den Blick zum wirklich Wesentlichen. Darum müssen sie
immer wieder wie überflüssig gewordene Gerüste abgetragen werden …
damit der lebendige Herr sichtbar werde“ (Zur Gemeinschaft berufen,
Freiburg i. Br. 133, 138). Keine Anzeichen sind zu erkennen, dass dieser
gute Gedanke in die Tat umgesetzt wird. Benedikt XVI. verhält sich genau
gegenteilig. Die kirchliche Institution wird als Wahrheitsträgerin
angesehen und der Einzelne hat sich nach ihr auszurichten und sich ihr zu
unterwerfen. Daher sagte Benedikt XVI. in seiner Regensburger Rede 2006,
dass das subjektive Gewissen kein ethischer Maßstab ist. Damit stellt er
sich gegen die ganze kirchliche Tradition (besonders gegen Thomas von
Aquin), die das Gewissen als letzte Entscheidungsinstanz sah, auch wenn
Papst Gregor XVI. die Religions- und Gewissensfreiheit als „absurde
Wahnidee“ (Delirium) bezeichnete (D 2730). Benedikt XVI. leistet ihm
treue Gefolgschaft. Eine größere Missachtung des konkreten Menschen gibt
es kaum. Daher ist es auch logisch, dass die römisch-katholische Kirche
als letzte westliche Diktatur oder wenn Sie lieber wollen absolutistische
Monarchie, die Menschenrechtserklärung (1950) und -konvention (1953) des
Europarates nie unterzeichnet hat. Das Kirchliche Gesetzbuch (CIC) müsste
radikal geändert werden. Darunter fällt nicht nur das Eheverbot für
Priester, sondern ebenso die Entlassung von Kindergärtnerinnen, die ein
zweites Mal heiraten, wie die Verweigerung der Gleichberechtigung von Mann
und Frau usw. Aus
dieser absoluten Priorität der Institution der Katholischen Kirche als
Wahrheitsinstanz gegenüber dem Einzelnen ergibt sich auch die Missachtung
der anderen Kirchen. Eine echte Ökumene ist nicht möglich, sondern nur
ein Rückkehrökumenismus. In „Dominus Jesus“ (2000) wird klar gesagt,
dass die Katholische Kirche die einzige Kirche Christi ist, sonst gibt es
nur „kirchliche Elemente“ (IV, 16f). Jesus selbst habe die
hierarchische Struktur der Kirche grundgelegt, mit Unter- und Überordnung,
also das hierarchische Gefälle von Befehl und Gehorsam. Aus diesem Grund
ist auch ein echter Dialog mit anderen Religionen nicht möglich. Wenn
zudem beteuert wird, dass die einzig wahre Kirche doch alles, was gut und
wahr ist, in den anderen Religionen anerkenne, dann entscheidet eben die
Hierarchie darüber, was in den Religionen „gut und wahr“ ist. So
stellt sich die Absolutsetzung der Institution Kirche nicht nur über den
Einzelnen, sondern auch über alle anderen religiösen Gemeinschaften. Es
wundert daher nicht, wenn die katholische Gewaltherrschaft kein Geringerer
als Adolf Hitler (der nie aus der Katholischen Kirche ausgeschlossen
wurde) lobte: „Etwas Großartigeres“ als die „hierarchische
Ordnung“ der Katholischen Kirche hat es „bisher auf der Welt noch
nicht gegeben. Ich habe vieles unmittelbar auf die Ordnung meiner Partei
übertragen“ (Christen gegen Christen, 76). Muss eine solche Aussage
nicht zu denken geben? Bei allem guten Willen kann das Leben dort nicht glücken,
wo Unfreiheit und Angst herrschen. Ein wesentlicher Grund für den
Missbrauch anderer Menschen! Selbst missbraucht durch einen Machtapparat,
wird die Unterdrückung an die schwächeren Glieder weitergeleitet. Die
Katholische Kirche als diktatorisches System ist grundsätzlich nicht fähig,
Jugendliche in Heimen und Schulen zur Eigenverantwortung zu erziehen. Das
sagt natürlich nicht, dass es nicht auch gute „Erzieher“ in
kirchlichen Einrichtungen geben kann. Das System aber schädigt alle. Das
gilt auch für die Priesterseminare, die durch das ungesunde Zusammenleben
von Männern allein eine problematische Polung der Sexualität und
Machtgelüste begünstigt. Man muss sich stets vor Augen halten, dass dies
alles zur größeren Ehre der Machtkirche geschieht, die der Souverän über
die Gläubigen ist. Bezeichnend ist die Aussage des Ignatius von Loyola
(Exerzitien, Nr. 365): „Wir müssen, um in allem das Rechte zu tun,
immer festhalten: ich glaube, dass das Weiße, das ich sehe, schwarz ist,
wenn die Hierarische Kirche es so definiert“. Es ist die blanke Form
eines Kadavergehorsams. Er ist getragen von einer „Höllenangst“, die
viele auch davor zurückschrecken lässt, aus der Kirche als Körperschaft
des öffentlichen Rechts auszutreten. Wir brauchen doch, so das Argument,
eine Institution, die zeigt, woran man sich halten kann. Ebenso spielt die
Angst eine große Rolle, die Sterbesakramente nicht empfangen zu können
und nicht kirchlich beerdigt zu werden. Treffend sagt dazu Reinhold
Schneider: „Auf der Angst ruht die Macht, das Reich des Bösen … über
die Angst hinaus vermag es seine Grenzen nicht auszudehnen“. Angst und
Gehorsam zerstören die Freiheit und beschädigen daher den Menschen in
seinem Wesen. Die „Last der Freiheit“ wird ersetzt durch den Gehorsam
gegenüber einer „kirchlich-göttlichen Autorität“. So lässt
Dostojewski den Großinquisitor in den Brüdern Karamasow sprechen: „Wir
werden sie davon überzeugen, dass sie erst dann wahrhaftig frei sein
werden, wenn sie zu unseren Gunsten ihrer Freiheit entsagen und uns
gehorchen … und sie werden sich uns mit Lust und Freude unterwerfen“.
Eine mächtige Institution, die sich in der Wahrheit wähnt, dazu mit
Heilsverheißung, ist attraktiv. Die Freiheit wird in die Zwangsjacke der
Angst gesteckt und beides scheint im Gehorsam überwunden. Die Demutsgeste
der Unterwerfung fordern stets die Machthaber. Gehorsam verpflichtet sich
den Potentaten und nicht dem Gewissen. Daher sagt zu Recht der Philosoph
Montesquieu: Macht und Machtmissbrauch sind siamesische Zwillinge. Daher
bedeutet der Gehorsam der Obrigkeit gegenüber strukturell blinder
Gehorsam, der das Gewissen suspendiert. Die Evangelisten berichten, dass
das Volk seinen religiösen Führern gehorchte und dies bedeutete für
Jesus den Tod. Treffend betont die Philosophin Hannah Arendt: Keiner hat
das Recht zu gehorchen. Und Karl Rahner meinte in seinen Schriften zur
Theologie (Bd. 15, 393ff), dass Gehorsam und die Exekution eines Befehles
von oben keine Maxime der Kirchlichkeit ist. Die eingetrichterte
Gehorsamspflicht durch Hierarchen pervertiert den Menschen. Daher haben
wir auch von keinem Papst je das Bekenntnis zur freien Entfaltung der Persönlichkeit
gehört. So steht immer das Argument aus dem Kirchlichen Gesetzbuch über
dem der Bibel und folglich die hierarchische Macht und Gewalt über dem
Einzelnen. Dies alles trägt zur Missachtung der Würde und des Willens
des Mitmenschen bei. Der „Obere“ kann sich alles herausnehmen, der
Untergebene muss kuschen. Aus der Gewaltherrschaft entsteht so die Gewalt
gegen den Schwächeren, die sich nicht nur in einem Prügelbischof wie
Mixa zeigt, sondern sich auch sexuell auswirken kann. Gegen diese
Hierarchie – d.h. Heilige Herrschaft – die höchst unheilig ist, haben
sich z.B. Jeanne d’Arc (15. Jh.) und Hildegard von Bingen (12. Jh.)
gewehrt (als „Heilige“ verehrt, sollten sie freilich für das System
unschädlich gemacht werden). Jeanne d’Arc ist für ihre Hoffnung auf
bessere gesellschaftliche Verhältnisse von den Kirchenführern verbrannt
worden, Hildegard von Bingen starb unter dem Interdikt – jedes Sakrament
wurde ihr und ihrer Gemeinschaft vom Bischof verweigert – weil sie einen
aus der Kirche Ausgeschlossenen in „geweihter Erde“ begraben hatte.
Sie kirchlich zu loben, bedeutet, Sand in die Augen der Gläubigen zu
streuen, wie es Benedikt XVI. vorzüglich kann, indem er ihre Haltung als
vorbildlich bezeichnete. „Denken wir (doch) an Hildegard von Bingen, die
kraftvoll protestiert hat gegen Bischöfe und Papst“ (Fernsehinterview
13.08.2006). Tut dies heute
jemand, wird er gemaßregelt, suspendiert oder gar exkommuniziert. Ziviler
Ungehorsam ist gegen eine korrupte Hierarchie gefordert. Nur eine
Erziehung zum Ungehorsam und zugleich zu einer echten Dialogbereitschaft
auf gleicher Ebene, kann helfen, die im System angelegte Gewalt zu überwinden.
Eine Hierarchie, die sexuelle Gewalt vertuscht, ist systemisch zutiefst
korrupt. Nur wenn das System sich ändert und sich auf die Haltung Jesu
besinnt, ist auf eine Reduktion gleich welcher Gewalt zu hoffen. Wo immer
das Antlitz eines Menschen geschändet wird, ist ziviler Ungehorsam
geboten. Jede Diktatur ist für jeden Menschen schädlich. Sie drückt
sich z.B. im „Grundgesetz“ des Vatikans aus (2000, Art. 1): „Der
Papst besitzt als Oberhaupt des Vatikanstaates die Fülle der
gesetzgebenden, ausführenden und richterlichen Gewalt“. Am Selbstverständnis
des letzten absolutistischen Monarchen in der westlichen Welt hat sich
seit dem Mittelalter nichts geändert. Muss man einem Diktator wirklich
eine Rede im Bundestag „mit Freuden“ gestatten, der lehrt: „A nemine
licet judicare judicio“ (1. Vatikanisches Konzil, D 3063). Niemand darf
sich ein Urteil über die päpstliche Gewalt erlauben. Man muss sich bei
solchen Aussagen der ganzen Tragweite für das Verständnis der
„Conditio humana“ bewusst sein. In der Gehorsamsforderung ist jede
Diktatur gleich. Jede führt und verführt Menschen zu unmenschlichen
Handlungen. Diese sind systemimmanent. Ein anderes, humaneres System ist
gefordert, das nicht sich selbst, sondern dem Menschen, dem
„Gottesvolk“ dient. Die Würde der Institution ist niemals heilig, sie
steht nie über der Würde des konkreten Menschen und schon gar nicht über
der Würde des Opfers. Für jeden Christen kann nur gelten, dass allein
die Würde und Freiheit jedes Menschen unantastbar und heilig ist. „Zur
Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1). Die Grenze meiner Freiheit
kann nur die Freiheit des Anderen sein; sonst gibt es kein Gesetz. Es ist
das Gesetz der Nächsten- und Feindesliebe, das allein die ganze Substanz
der christlichen Botschaft ausmacht. Alle anderen Gesetze, Gebote und
Institutionen haben nur Sinn, wenn sie für den Menschen da sind und
solidarische Gemeinschaft fördern. Sonst leisten sie der Gewalt, Unterdrückung
und Ausbeutung aller Art (auch sexueller) Vorschub. Nur die Achtung vor
den „Mühseligen und Beladenen“ kann Schimmer der Hoffnung auf eine
menschlichere und damit christlichere Welt sein. Gehorsam verdirbt und
Gesetze, denen man untertan sein muss, können Menschen zerstören. Es ist
besser ein Gesetz zu brechen als ein Herz. Ich meine, es ist
deutlich geworden ist, dass institutionelle Strukturen, die über den
konkreten Menschen gestülpt werden und denen er zu dienen hat, ihn in
seiner verantworteten Freiheit zutiefst verletzen und die Liebe zum, von
Jesus Christus befreiten, Menschen schwer beschädigen. Jede auch noch so
fromme Ideologie setzt den einzelnen Menschen unwesentlich und ihren
Machtanspruch wesentlich. Genau dagegen steht Jesu exemplarisches Leben.
Eine Institution, die unbedingten Gehorsam fordert, dazu noch im Namen
Gottes, weil sie „von Gottes Gnaden“ existiert, ist die Wurzel der
Gewalt. Symptomatisch bringt sie Formen unkontrollierter Machtausübung
hervor, von denen eine der sexuelle Missbrauch Schutzbefohlener ist. Die
Kirche, die nicht bereut, dass sie ihre Machtinteressen als Institution über
das Leid der Opfer gestellt hat und nicht bereit ist, dem Ruf Jesu zu
folgen: Kehrt um, denn nur so ist der Bereich Gottes unter euch, wird
weiter vertuschen, verleugnen, verheimlichen usw. und alle Schuld auf den
Einzelnen abwälzen. Eine Veränderung des kirchlichen Selbstverständnisses
ist leider nicht zu erwarten, wie wir aus Hirtenbriefen, vatikanischen und
bischöflichen Äußerungen klar erkennen müssen. 3.
Gründe sexuellen Missbrauchs Nun noch einige
Bemerkungen zum Symptom des sexuellen Missbrauchs. Es ist die Eigenart
aller religiösen und staatlichen Diktaturen, dass sie auf die Regelung
des sexuellen Verhaltens ihrer Untertanen größten Wert legen und dieses
so weit wie möglich überwachen. Selbstverständlich ist eine
Gedankenkontrolle noch grausamer, wenn abweichende Meinungen zum
Ausschluss führen. Bereits Schiller hat in Don Carlos dagegen
protestiert: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“. Menschenopfer
gibt es nicht nur in der Form der Opferung eines Menschen für eine
Gottheit, sondern in der ganzen Kirchengeschichte, angefangen bei
Konstantin, fordert die Kirche Menschenopfer, sei es, wie uns allen
bekannt, in der Form der Inquisition, der Hexenverfolgung, der Kreuzzüge
usw., aber noch subtiler in der Ächtung, im Totschweigen, in der
Vernichtung der beruflichen und finanziellen Existenz. Dies reicht bis ins
Forum internum, indem Gewissensängste erzeugt werden und so das Denken
selbst pervertieren. Besonders ausgeprägt ist es im sexuellen Bereich.
Hier gilt dagegen: Tendere supra naturam, est cadere infra! Nun ist das
alles keine Erfindung der Katholischen Kirche, sondern Eigenart der
Religionen, dass Gott besonders mit der Sexualität in Verbindung gebracht
wird, um so einen unumstößlichen Zwang hervorzurufen. Als Beispiel kann
uns schon das Alte Testament dienen. Gott schließt mit Israel einen Bund.
Was verlangt er? Einen Teil des männlichen Gliedes: die Beschneidung. Von
nun an wacht Gott über den Gebrauch des Penis. Die Katholische Kirche übernimmt
dieses göttliche Interesse an der Sexualität und wird seine Hüterin. Es
war bei meiner Ausbildung zum Priester bezeichnend, dass der
Beichtunterricht fast ausschließlich den sexuellen Bereich betraf und wir
als Priester besonders auf diesem Gebiet verpflichtet seien, beim
„Beichtkind“ nachzuforschen. Das „Jagdrevier“ wurde so bestellt
und Gottes besondere Sorge galt dem Tun auch der Eheleute im
Schlafzimmer (es ist
verständlich, denn Gott muss jeweils bei der Zeugung eines Kindes die
entsprechende „Seele“ schaffen). Da ein wesentlicher Ansatzpunkt für
die Diktaturen die sexuelle Disziplinierung des Einzelnen ist, nimmt die
Herrschaft über ihn und die Sexualmoral den ersten Platz ein (anders als
bei Jesus, für den die Befreiung von der Unterdrückung aller Art an
erster Stelle steht). Lust ist verdächtig und Verhütung – auch im
Zusammenhang mit AIDS – ist schwer sündhaft, nur Prostituierten erlaubt
der Papst das Kondom, wobei ihr Sexualverhalten eine Todsünde ist.
Ehescheidung wird verboten und Wiederverheiratete dürfen die Sakramente
nicht empfangen. Hingegen beim Eidverbot durch Jesus, das im Zusammenhang
mit der (jüdischen) Ehescheidungspraxis angesprochen wird, ist die Kirche
jedoch nicht zimperlich, ganz im Gegenteil, mindestens fünf Mal wird
jeder Priester zum Schwören gezwungen. Selbstverständlich wird
Homosexualität usw. aufs Schärfste verurteilt. Ja selbst Sexualaufklärung
in der Schule verstößt – so Benedikt XVI. erst kürzlich – gegen die
Religionsfreiheit. Kann man eine solche „religiöse“ Welt noch
verstehen? Selbstverständlich muss jedem Menschen unbenommen sein, ob er
eine Ehe eingehen will oder nicht. Kann aber überhaupt ein Zwangszölibat
für Priester ein Zeugnis für die Moral einer Kirche sein? Ist es nicht
vielmehr ein Zeugnis der Lust- und Sexualfeindlichkeit? Will denn Gott
wirklich das Sexopfer? Gott und der Mitmensch treten so in Konkurrenz. Nur
der Verzicht auf volle menschliche Beziehung ermöglicht eine erhabene
Beziehung zu Gott. Was ist das für ein Gottes- und Menschenbild! Nur im
Mitmenschen begegnen wir Gott und nicht in einer gedachten Beziehung
meiner Seele zu ihm. Wenn die Vorstellung von der Menschwerdung Gottes
einen Sinn hat, dann doch diesen, dass durch Jesus Christus die wahre
menschliche Liebe absolute Bedeutung hat und d.h. die Gottesliebe
einschließt. Schon im 1. Johannesbrief wird darauf hingewiesen, dass wir
Gott, den wir nicht sehen, nicht lieben, wenn unsere Liebe nicht dem
sichtbaren Menschen gilt. Gerade wenn man einem Menschen sein „Herz“
schenkt, ihn absolut bejaht, wird Gottes Wirklichkeit erfahren. Nachdem alle Begründungen
des Zölibatsgesetzes fehlgeschlagen sind, wie: die Naherwartung oder die
Sündhaftigkeit jeder geschlechtlichen Betätigung (z.B. Hieronymus [4.
Jh.]: „omnis coitus inmundus“, auch in der Ehe) oder die kultische
Reinheit (vor der Hl. Messe kein Geschlechtsverkehr) oder die Ehelosigkeit
als „eschatologische Existenz“, da im „Himmel“ nicht geheiratet
wird (Lk 20,34ff), als ob Priester „Engel“ auf Erden wären, blieb
schließlich noch das Argument, das 1983 in den CIC Eingang gefunden hat:
Der ehelose Priester könne leichter „mit ungeteiltem Herzen, Christus
anhangen“ und so besser Gott und den Menschen dienen. Dabei wird
besonders die Frau abgewertet und zum Hindernis für das Wirken des
Priesters. Wirklich schädlich hingegen ist für jeden Priester und
Menschen Herrschsucht, Machtanspruch, eigene Überbewertung,
institutionalisierte Unterdrückung, Habgier und Missbrauch
Schutzbefohlener. Es wird überhaupt nicht gesehen, dass gerade echte
dialogische zwischenmenschliche Beziehung Gotteserfahrung erst ermöglicht.
Der Mensch ist kein geschlossenes Subjekt, das sich Untertanen suchen
sollte, um sie zu beherrschen, sondern ein Beziehungswesen. In der
Enzyklika „Deus caritas est“ sagt Benedikt XVI. selbst, dass Mann und
Frau zusammen das volle Menschsein bilden. Der zölibatäre Priester wird
zu einem halben Menschsein gezwungen. Unerfülltes Menschsein, ein
fragmentierter Mensch wird immer stärker pervertierten Gelüsten
ausgesetzt sein, als ein Mensch, der in Freiheit sein Menschsein, seinen
Lebensentwurf leben kann und darf. Die Traumatisierung
durch die kirchlichen Moralvorstellungen führt zur Abspaltung von Sex und
Sinnlichkeit. Die kirchliche Institution erhebt die „Heilige Familie“,
die makellose Jungfrau und den asexuellen Kleriker zum Ideal. Genau
dadurch wird die sexuelle Gewalt begünstigt (D. Funke). Die Spaltung in
einen asexuellen Priesterleib und einen niedrigeren sexuellen Körper
bilden den Hintergrund des sexuellen Missbrauchs in der Kirche. Dieses
Priesterideal ist neben der Machterhaltung der Institution ein Grund,
warum die Trauer wegen der Befleckung des reinen Kleides der Katholischen
Kirche im Vordergrund steht und die Beschämung darüber weit größer ist
als die Sorge um das Leid und die Verletzungen der Opfer. Warum sich
Priester überhaupt dieser Idee unterwerfen, liegt oft darin, dass ihnen
eine hohe narzisstische Belohnung (Himmel) in Aussicht gestellt wird. Eine
noch nicht entwickelte Persönlichkeit kann daher von einem Leben ohne
sexuelle Beziehung angezogen werden. Nicht die Ehelosigkeit als solche ist
das entscheidende Problem, sondern eine monogeschlechtliche Hierarchie,
die Unterwerfungsbereitschaft fordert, die der Priester weitergibt und die
ihn zur Gewalt verführt, die sich auch sexuell zeigt, wo seine eigene
psychosexuelle Entwicklung tief gestört ist. Die eigene „Abtötung“
verleitet zur Verdinglichung des Körpers, die auf das Opfer projiziert
wird. So wird der Andere (Kind, Jugendlicher etc.) nicht als ein freier
Mensch erlebt, sondern als ein Teil des eigenen Selbst, der vergewaltigt
wird. Selbst in sich gespalten, beraubt er den Anderen seiner Ganzheit und
macht diesen sich selbst im Missbrauch gleich. Zugleich ist das Tabu
„Weib“ aufgestellt. Die Angst vor der Frau spiegelt sich darin wider,
dass sie in der Jungfrau Maria zärtlich, innig und kindlich verehrt wird,
jedoch erotisch-sexuell nicht begehrt werden darf. Daher wird keine
Partnerschaft auf gleicher Ebene gefördert, sondern die Unterwerfung
unter die asexuelle jungfräuliche Mutter. Durch dieses entgleiste Ideal
wird die Unterwerfungsbereitschaft gleichsam dogmatisiert. Die Einsicht,
dass sich in einer echten partnerschaftlichen Beziehung eine Wirklichkeit
zeigt, die das Göttliche berührt, könnte die Abspaltung verhindern und
damit den sexuellen Gewaltexzessen Einzelner das fördernde Klima
entziehen. 4.
Kirche Christi als Freiraum für Christen Würde die römische
Kirche sich auf die Frohe Botschaft Jesu beziehen, dann wäre klar, dass
nur die Pflege einer Beziehung auf Augenhöhe christlich sein kann.
Niemanden sollt ihr Meister, Lehrer und Heiliger Vater nennen, sondern ihr
alle seid Geschwister (Mt 23,7f). Keine Über- und Unterordnung, keine
Gewaltanwendung körperlicher oder psychischer Art ist mit dem Christentum
zu vereinbaren. Wenn Strukturen einer Glaubensgemeinschaft angebracht
sind, dann kann man die Pastoralbriefe heranziehen (auch wenn
patriarchalische Untertöne der damaligen Gesellschaft mitschwingen). Wenn
Vorsteher von der Gemeinde gewählt werden, dann sollten sie gütig,
verheiratet und gastfreundlich sein, aber nicht trunksüchtig, zänkisch
oder geldgierig. Die Kinder sollten gut erzogen sein, damit Außenstehende
sich nicht das Maul zerreißen (1Tim 3,1ff). Auch soll der Gewählte das Böse
mit Geduld ertragen (2Tim 2,24). Im 2. Jh. wussten offenbar die Christen,
dass nur ein Mensch, der beziehungsfähig ist und in einer ehelichen
Beziehung lebt, geeignet ist, Glaubensgemeinschaft zu koordinieren und
vernünftige Anleitungen zu geben. Von der biblischen Botschaft her ist es
nicht möglich, irgendetwas über die Beziehungsgemeinschaft
Gleichberechtigter zu stellen, die jedem seine Freiheit lässt und die
Freiheit des Anderen achtet. Ich sehe im Gehorsamsprinzip, das immer ein
Herr-Knecht-Verhältnis errichtet und daher Menschsein in der Wurzel
pervertiert, das unchristliche Leitmotiv, das immer Unterdrückung
hervorruft und inhuman ist. „Heiliger Vater befiehl, wir folgen dir“
– ist der tiefste Widerspruch zur Botschaft Jesu. Dem Machtstreben der Jünger
setzt Jesus den Verweis auf die damalige Gesellschaftsordnung entgegen,
die in Unterdrückungsmechanismen bestand. So soll es bei euch nicht sein!
Nicht Herrschaftsanspruch, sondern Solidarität! Sie überwindet das Böse
durch das Gute. Das Streben nach Macht und Ehre bringt Unheil, nur eine
Umkehr (Metanoia) kann helfen, dass der Bereich des Guten, Gottes Bereich
unter den Menschen wirklich wird. Die Wertschätzung eines jeden Menschen,
auch des schwächsten, muss unter Christen das rücksichtslose
Durchsetzungsvermögen durchkreuzen; dies gilt für Ausbeutung aller Art,
durch Arbeit, durch Gewinnmaximierung, durch sexuelle Abspaltung. Das
Markus-Evangelium erkannte bereits darin die Kirche am Scheideweg, die
sich zwischen Machtträumen von Herrschaftsansprüchen und solidarischem
Einstehen füreinander, also zwischen Unglaube und Glaube entscheiden
muss. Unser Positionsdenken ist total umzukehren. Darum spricht Jesus vom
Werden zu einem gering geachteten Kind. Ausgleich in der
Glaubensgemeinschaft zu schaffen ist nicht die Aufgabe irgendeines Würdenträgers,
sondern letzte Instanz ist die ganze Gemeinde. In ihr ist kein Platz für
eine Vertuschungsstrategie, für Vorverurteilungen, Geheimdossiers und
Demutserklärungen. Nächsten- und Feindesliebe ist die christliche
Grundhaltung. Diese Gleichheit vor Gott, der Liebe, ist keine unterdrückende
Gleichmacherei, sondern Schutz der Würde jeder einzelnen Person. Auch
Jesus ist nach dem Johannes-Evangelium kein Herrscher: Nicht Knechte nenne
ich euch, sondern Freunde. Christliche Gemeinschaft bricht die Herrschaft
des Menschen über den Menschen. Wie wir wissen, baut Paulus den Gedanken
einer Gemeinschaft Gleicher aus, indem er die Charismen – jeder ist ein
Charismatiker – als Grundstruktur der Kirche versteht. Eine
hierarchische Organisation ist ihm nicht nur fremd, sondern sie verfälscht
das Kirche-Christi-Sein. Augustinus greift den paulinischen Kirchenbegriff
auf: „Ecclesia est populus fidelis per universum orbem dispersus“
(Trid. Kat. X,II). Überall, wo zwei oder drei im Namen Christi versammelt
sind, ist Kirche Christi. Das Bild des Leibes Christi für die Kirche soll
verdeutlichen, dass jeder seine spezifische Funktion hat und daher seine
unauswechselbare Würde, die unantastbar ist. Eine kopflose Gemeinde geht
in die Irre, eine herzlose erstarrt in Lieblosigkeit, eine blutleere
vertrocknet und eine ohne Lunge erstickt. Jeder hat die gleiche
lebenserhaltende Bedeutung und daher diskriminieren Christen weder Juden
noch Heiden, weder Sklaven noch Freie, weder Mann noch Frau (Gal 3,26f).
In der paulinischen Gemeinde sind die Beziehungen von ihrer Struktur her
herrschaftsfrei. Die Struktur der römisch-katholischen Kirche ist dieser
diametral entgegengesetzt. Sie ist wie ein Wolf im Schafspelz. Sie
spiegelt den Willen Jesu Christi vor, der nur in einer Obrigkeitskirche
verwirklicht werden könne und hält so die Menschen unmündig. Dagegen
gilt: Wage deinen Glaubensverstand zu gebrauchen, er steht über jedem
Gehorsamsakt! Um den Missbrauch von Menschen – nicht nur sexuell – zu
reduzieren, kann nur ein Glaubensbewusstsein helfen, das in jedem Menschen
Gottes Ebenbild sieht, d.h., dass jeder liebenswert ist und in seiner
Freiheit geachtet wird. Als Hilfe dafür mag ein demokratisches System nützlich
sein. Jeder hat bei allen wichtigen Entscheidungen ein Mitspracherecht.
Die Gewaltenteilung ist ein unabdingbarer Bestandteil. Machtkontrolle ist
stets obligatorisch. Abwahl von allen institutionellen Posten muss möglich
sein. Papst, Bischöfe und Pfarrer sind nur auf Zeit zu bestellen (z.B. 5
Jahre) und haben vor den anderen Gläubigen Rechenschaft abzulegen. Jeder
muss seine eigene Lebensform wählen können, solange sie nicht
Mitchristen Schaden bereitet. Frau und Mann sind selbstverständlich
gleichberechtigt. Nichts darf an Glaubensregeln oder Gemeindeordnungen
verkündet werden, was der gegenseitigen Liebe abträglich ist, denn nur
der Glaube, der in der Liebe wirkt, ist Fundament der Kirche. Die
Zwei-Klassen-Gesellschaft der Kirche wäre beendet und die Monopolstellung
der Hierarchie erloschen. Kirche könnte so zum Vorbild für die Befreiung
von Herrschafts- und Machtmechanismen werden. In der Wurzel wäre der
Missbrauch von Menschen überwunden. Das heißt nicht, dass Missbrauch überhaupt
nicht mehr vorkommen kann, aber Vertuschung und Missachtung der Opfer wäre
a limine verbannt. Nur eine radikale Veränderung des kirchlichen
Selbstverständnisses kann Heilung bringen. Nur eine Kirchenverfassung,
die die Herrschaft des Menschen über den Menschen ausschließt, ist
christlich. Wenn die Kirche die Frohe Botschaft der Freiheit eines
Christenmenschen verkündet und diese Freiheit in die tätige Liebe
einbindet, dann könnte der alte Ruf der Nichtchristen wieder zu hören
sein: Seht, wie sie einander lieben! Für die jetzt bestehende Kirche gilt
jedoch die Klage Jesu, wie einst über Jerusalem: „Oh dass du es doch
erkannt hättest, was an diesem deinem Tag dir zum Frieden dient! Nun ist
es vor deinen Augen verborgen.“ (Lk 19,42). |
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